- japanischer Konfuzianismus: Das Prinzip der guten Sitte
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Nach der japanischen Reichschronik »Nihongi« aus dem Jahr 720 brachte der im 4. Jahrhundert aus Korea eingewanderte Gelehrte Wani konfuzianistische Texte mit, wie etwa die »Gespräche des Konfuzius« (»Lunyu«). Das »Nihongi« berichtet auch aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts von beamteten konfuzianistischen Gelehrten, wie die vom koreanischen Königshof entsandten Tuan Yangerh und Kao Anmou, die abwechselnd Dienst am japanischen Kaiserhof taten. Sie werden als die »Gelehrten der »Fünf Klassiker«« (»gokyō-hakase«) bezeichnet. Mit den chinesischen »Fünf Klassikern« sind gemeint: das »Buch der Wandlungen«, das »Buch der Lieder«, das »Buch der Urkunden«, das »Buch der Riten« sowie die »Frühlings- und Herbstannalen«.Die »Siebzehn-Artikel-Verfassung«, die 604 vom Prinzregent Shōtoku-taishi erlassen wurde, beruft sich in den meisten Artikeln ausdrücklich auf konfuzianistische ethische Prinzipien (ausgenommen ist Artikel 2, der den Ministern und Beamten die Verehrung Buddhas, seiner Lehre und seiner Gemeinschaft empfiehlt). Der 4. Artikel lautet beispielsweise: »Minister und Beamte müssen die gute Sitte zu ihrem Grundprinzip machen. Ihr Grundprinzip für die Regierung des Volkes muss in der guten Sitte bestehen. Sind die Oberen nicht gesittet, so werden sich die Untertanen nicht in Ordnung halten. Wenn die Unteren nicht gesittet sind, so werden sie mithin notwendigerweise Vergehen und Verbrechen auf sich laden. Wenn daher Fürst und Untertan im Besitz der guten Sitte sind, so wird die Ordnung nicht gestört werden. Wenn das Volk gute Sitte hat, regiert sich der Staat von selbst.«Im Zuge der Taikareform 645/646 wurde die konfuzianistische Staatsethik systematisch in die neue zentralstaatliche Gesetzgebung eingebaut. Die Taihō- und Yōrō-Gesetze von 701 und 718 ordneten Strafrecht, Zivilrecht und Verwaltungsrecht neu. Aufgrund des neuen Verwaltungsrechts wurden eine zentralstaatliche Hochschule (»Daigaku«) und Provinzschulen (»Kokugaku«) gegründet, an denen die »Vier Wege« gelehrt wurden: Kidendō, die chinesische Geschichte beziehungsweise das klassische Chinesisch (»Kambun«), Myōgyōdō, die Exegese der konfuzianistischen Schriften, Myōhōdō, die Rechtswissenschaft, und Chikudō, die Mathematik. In der Exegese der konfuzianistischen Schriften spielten die »Gespräche des Konfuzius« (»Lunyu«) und das »Buch der Kindespflicht« (»Hsiaoching«) die Hauptrolle. In der Nara- und Heian-Zeit waren diese vier Fächer japanischer Schulen jeweils bestimmten Gelehrtenfamilien erblich anvertraut.Für Kidendō und Myōgyōdō waren die Familien Sugawara und Oe zuständig, für Myōhōdō und Chikudō die Familien Kiyohara und Nakahara. Man nennt diese Familien »Hakase-ke«. Für die Lesung und Auslegung schwieriger, umstrittener Stellen der konfuzianistischen Quellen und Kommentare entwickelten die einzelnen Hakase-Familien ihre eigenen Methoden und gaben sie als »Familiengeheimnis« nur an ihre Musterschüler weiter. Ähnlich wie der Stand des Hofadels, mit dem der Stand der Gelehrten aufgrund seiner Bindung an die Adelsschulen eng verbunden war, beschäftigten sich auch die Gelehrtenfamilien im Laufe der Heian-Zeit mehr und mehr nur mit ihren eigenen Standesangelegenheiten anstatt mit den neuen politischen und wirtschaftlichen Tendenzen und Kräfteverhältnissen der Gesellschaft. Als der Hofadel (»kuge«) in der Kamakura-Zeit durch den Kriegeradel (»buke«) entmachtet wurde, verloren die kunfuzianischen Gelehrtenfamilien der Hofadelsschulen ihre Monopolstellung. Sie wurden durch die Zen-Mönche und die neuen Schulen des Kriegeradels abgelöst. Während Gelehrtenfamilien wie die Sugawara und Kiyohara auf die konfuzianistische Überlieferung der Sui- und Tang-Zeit spezialisiert waren, brachten die Zen-Mönche von ihren Chinareisen nun die konfuzianistischen Texte der Song-Zeit mit, vor allem die der »Shushigaku«, der Lehre des Shushi (chinesisch: Zhu Xi). Die bedeutendsten Zen-Tempel von Kamakura und Kyōto stiegen unter der Schirmherrschaft der Shōgune zu neuen Zentren des Studiums des Konfuzianismus in Japan auf, wie etwa der Gozan-Tempel.Als Berater der Shōgune und Provinz-Daimyō wurden die Zen-Mönche, besonders die Mönche der Rinzaischule, nun auch in die Diskussion der Legitimität der Shogunatsregierung gegenüber der Kaiserregierung hineingezogen. Während die Shogunatsfamilien der Minamoto beziehungsweise Hōjō in der Kamakura-Zeit und der Ashikaga in der Muromachi-Zeit eine Verbindung von Konfuzianismus als Staatsethik und Buddhismus als Erlösungsreligion suchten und dabei die Oberhoheit des Buddhismus anerkannten, bemühten sie die Tokugawa-Shōgune in der Edo-Zeit (1603 bis 1868) um die Trennung des Konfuzianismus sowohl vom Buddhismus wie auch vom Shintoismus und um die Ausbreitung des Konfuzianismus in der Form der Shushigaku als der herrschenden Staatsideologie, der sich auch Buddhismus und Shintoismus zu fügen hatten, ganz zu schweigen von der Verfolgung des Christentums. Dabei machten sich die Tokugawa-Shōgune die Gelehrsamkeit von Zen-Mönchen wie Fujiwara Seika und Hayashi Razan zunutze, die, um der Spezialisierung auf ihre konfuzianistische Studien willen, den Mönchsstand aufgegeben und »in die Welt« zurückgekehrt waren. Das Tokugawa-Shogunat förderte systematisch die Ausbreitung des Shushi-Konfuzianismus (japanischer Neokonfuzianismus) durch die Gründung von Schulen unter der erblichen Leitung der Familie Hayashi.Die Shushigaku enthält zwar auch daoistische und buddhistische Elemente, stellt aber als Ganzes die Systematisierung des Hauptstroms des konfuzianistischen Denkens um 1200 dar. Auf der Grundlage der ontologischen Beziehungen des alles bestimmenden Geist-Prinzips (»li«) zum bestimmbaren Materie-Energie-Prinzip (»chi«) formulierte Shushi eine Kosmologie, eine Psychologie und eine Ethik. Aus dem Zusammenwirken von »Li« und »Chi« geht alles Seiende hervor, auch der Mensch. Das Materie-Energie-Prinzip erzeugt den Leib des Menschen mit seinen äußeren und inneren Funktionen. Die inneren Tätigkeiten bestehen aus denken, fühlen und wollen. Ausgangspunkt dieser Tätigkeit ist das Herz (»hsin«). Den Wurzelgrund des Herzens bildet das Geist-Prinzip »Li« als individualisierte menschliche Wesensnatur (»hsing«). Mit der Wesensnatur sind Grundrichtung und die Grundtugenden der Sittlichkeit angeboren: Mitmenschlichkeit, Rechtlichkeit, Sitte, Wissen (und Rechtschaffenheit). Der Mensch ist in seiner Leib-Geist-Einheit an die Gesetzmäßigkeit des Kosmos insgesamt gebunden. Das Gesetz des Makrokosmos gilt auch für den Menschen als Mikrokosmos. Obwohl die vier beziehungsweise fünf Grundtugenden angeboren sind, werden sie von den einzelnen Menschen aufgrund ihrer individuellen leiblich-geistigen Anlagen und Lebensentscheidungen je anders verwirklicht. Je mehr die materiellen Eigenschaften überwiegen oder gepflegt werden, und je mehr damit die triebhaften und emotionalen Eigenschaften überwiegen, desto unvollkommener werden die Grundtugenden realisiert. Deshalb muss sich der Mensch stets um die Erlangung des rechten, das ethische Handeln bestimmende Wissens bemühen. Dies geschieht durch das Studium der ihm überlieferten Geschichte und der ihn umgebenden Natur. Er soll überall nach dem »Li« suchen, um sein Gewissen zu bilden und in seinem Handeln stets das »Li« zu verwirklichen.Während die Gelehrten der Shushigaku den Vorrang des Wissens und damit des Studiums vor dem Handeln betonten, stellten die Gelehrten der zweiten - inoffiziellen - neokonfuzianistischen Richtung, der Yōmeigaku, die auf den Chinesen Wang Yangming (* 1472, ✝ 1529) zurückgeht, die Einheit von Wissen und Handeln und damit die sich auf das angeborene ethische Gewissen (»liangchi«) verlassende und berufende Spontaneität des Handelns heraus, das im Notfall auch gegen die gesellschaftlichen Regeln verstoßen kann.Beide Richtungen, die staatlich geförderte Shushigaku und die Yōmeigaku, die sich nur in Vortragsversammlungen und Privatschulen äußern durfte, bemühten sich bewusst um die Ausbreitung des neokonfuzianistischen ethischen Denkens im Volk, besonders im erwachenden städtischen Bürgertum. Die traditionelle konfuzianistische Gesellschaftshierarchie mit dem Kaiserhaus an der Spitze, dem Hof- und Kriegeradel, den Bauern und Handwerkern in der Mitte und den Händlern an unterster Stelle wurde durch die Machtentfaltung des Händlertums auf den Kopf gestellt. Die Verbreiterung der Basis des Konfuzianismus in Japan, vom Hofadel über den Kriegeradel zum Bürgertum, bildete dann im 19. Jahrhundert die begünstigende Voraussetzung für die Schaffung des neuen auf den Tenno hin zentralisierten monarchisch-konstitutionellen Staatswesens. Zuvor musste allerdings die Macht der Tokugawa-Shōgune gebrochen werden, die sich seit Tokugawa Ieyasu (* 1543, ✝ 1616) als die neuen vom Himmel beauftragten Herrscher Japans betrachteten und denen manche neokonfuzianistische Gelehrte den Titel »König« aufdrängten. Die Entmachtung der Shōgune vollzog sich anlässlich des Streits um die Öffnung Japans für den Handel mit Amerika und den europäischen Seemächten und führte zur Meiji-Restauration von 1867/68, das heißt zur Wiederaufnahme der Regierung durch den Tenno selbst.Prof. Dr. Johannes LaubeElisseeff, Danielle und Elisseeff, Vadime: Japan. Kunst und Kultur. Ins Deutsche übertragen von Hedwig und Walter Burkart. Freiburg im Breisgau u. a. 21987.Schinzinger Robert: Japanisches Denken. Der weltanschauliche Hintergrund des heutigen Japan. Berlin 1983.
Universal-Lexikon. 2012.